Tellerrand

Das heiligabendliche Plätzchen-Backen auf der Sameera mit Clara war erwartungsgemäß eine große Gaudi – das kristallblaue Wasser ringsherum, Palmen und benachbarte Segelschiffe am Horizont verschafftem dem Ganzen ein lustig surreales Ambiente. Nebenher lief Rolf Zuckowski´s obligate  „Weihnachtsbäckerei“; endlich mal zu Weihnachten, denn in den letzten Jahren war das regelmäßig Severin´s „Sommerhit“, den wir nur mit viel Langmut ertragen konnten…. jetzt passte das schon besser, obwohl es ebenfalls warm war. Die bunten Schoko- und Zucker-Verzierungen machten die Plätzchen wirklich märchenhaft verlockend. Dass leider die verwendete Butter einen ranzigen Schlag hatte, tat dem Genuss nur marginalen Abbruch; alle Kekse waren dem zum Trotze noch bis zur Bescherung  vertilgt.

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Wer von Euch, ähnlich unseren Kindern, Sorge gehabt haben sollte, ob das Christkind den Weg bis hierher findet, sei beruhigt:  ja, unter unserem improvisierten Weihnachtsbaum lagen am frühen Abend, als wir vom Strand und dem dortigen „Heiligabend-Rumpunsch“  auf die Sameera zurück kamen, tatsächlich eine Reihe kleiner Päckchen.  Wir hatten eine beschauliche Bescherung unter unserem Palm-Weihnachtsbaum.

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Am nächsten Morgen warfen wir uns „in Schale“, um den Weihnachtsgottesdienst in der kleinen Kirche von Anse d´Arlet auf Martinique zu besuchen.

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Wir waren von der dortigen Herzlichkeit des Pfarrers und den karibischen Rhythmen des musizierenden Chors total begeistert. Die gesamte Feierlichkeit war dadurch sehr fröhlich und es riss alle Gottesdienstbesucher förmlich aus den Bänken – alles swingte, klatschte, jammte.  Wir auch! Lorenz, der ja in München selbst im Jugendchor der Sollner Kirchengemeinde singt, nahm sich vor, einen kleinen Videofilm zu drehen, um diesen seinem sehr engagierten und aufgeschlossenen Chorleiter zu zeigen: „Sowas geht – und können wir sowas nicht my-(mü)-weise nach Deutschland übertragen?“

Ach, das wäre schön, wenn wir ein bisschen dieses Lebensgefühls mit nach Hause bringen könnten – und nicht nur in die Kirche, sondern eben in alle Lebensbereiche…  Wir werden es versuchen, versprochen!

Am zweiten Weihnachtstag lichteten wir den Anker, um wieder nach Süden, nach St. Lucia zu segeln, da uns diese Insel ja sehr gut gefällt und wir sie gern Anne und Clara zeigen wollten.

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Rodnay Bay und Marigot Bay (im Norden von St. Lucia) sind eher touristisch, es liegen dort ultra-beeindruckende Megayachten und schicke Hotels – ein Ambiente, in dem wir uns eigentlich nicht sonderlich wohl fühlen. Nur wenn man sich von dieser first line entfernt, trifft man auf Land und Leute, die wir als authentisch erleben. Und je weiter südlich man sich bewegt, umso „ursprünglicher“ zeigt sich St. Lucia. Nachdem wir in der Marigot Bay (bekannt z.B. als Drehort für „Dr. Doolitte“) Lorenz´ 14. Geburtstag gebührlich gefeiert hatten, machten wir uns also auf, weiter in Richtung Süden.

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Für einen Landausflug landeten wir am 29.12. in einem kleinen Fischerdorf (Canaries) an, das vom Tourismus so gut wie unberührt erscheint. Wir spazierten durch den ärmlichen Ort und wurden von den Bewohnern sehr herzlich empfangen und von allen Seiten begrüßt.

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In der Bäckerei  mit spärlichem, aber köstlichem Angebot entwickelte sich ein Gespräch zwischen uns und einem anderen Kunden. Dieser (Ozo) bot uns an, spontan einen Ausflug per Geländewagen zu einem nahegelegenen Wasserfall gemeinsam mit einem Freund  zu organisieren. Nach kurzer Preisverhandlung wurden wir  uns einig und stiegen in / auf den massigen und kantigen Pickup seines Freundes Avalan. Dass dieser Fahrzeugtyp  für die Überwindung der Strecke absolut notwendig ist, zeigte sich schon bald, als wir in dschungelartiges Gestrüpp auf einer kaum mehr vorhandenen Steinstraße vordrungen, die in frühen Kolonialzeiten angelegt worden scheint. Ein weiterer Freund wurde abgeholt, da er den Weg besonders gut kenne. Dass er – ein Rastaman wie aus dem Bilderbuch – samt einer langen Machete auf die Ladefläche springt, macht uns nur kurzzeitig nervös. Es wird schnell klar, dass ohne dieses Werkzeug der Weg zu dem Wasserfall kaum zu bestreiten sein würde – und dass er (Holstan) ein überaus friedliebender und freundlicher Mensch ist.

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Holstan  gibt Manöveranweisungen für den Fahrer

Mit diesen drei Typen unterwegs zu sein, war eine besondere, tolle Erfahrung – so herzlich und gut umsorgt haben wir uns selten gefühlt.  Sie haben Freude, uns den exotischen Reichtum ihrer Insel nahezubringen, pflücken uns Kakaobohnen und Grapefruits zum Kosten. Man merkt, sie würden aus ihrer Insel gern mehr machen, sind engagiert in Jugendarbeit und organisieren ein regelmäßiges Musikfestival.

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Kakaobohnen-Verkostung auf der Pickup-Ladefläche

Die Stimmung  ist locker und herzlich, die Neugier an der jeweils anderen Kultur und Hintergründen ermöglicht spannende Gespräche. Und gleichzeitig manövriert uns Avalan extrem geschickt und zentimetergenau durch das unwegsame (jetzt weiß ich endlich, was das heißt) Gelände.

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Die letzten 200 Meter laufen wir zu Fuß über rutschige Steine, fliehende Krebse, Lianengestrüpp. Der sich auftuende Blick auf die Schlucht mit lautem Wasserfall ist (so blöd das klingt:) atemberaubend schön – und das Bad / die Dusche unter selbigem eine lustige Wohltat!  Das hat wirklich Dschungel-feeling !

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Das war ein fast trauriger Abschied voneinander, denn die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns wieder treffen, ist doch sehr gering. Wer aber in St. Lucia ist und auch eine solche Tour machen möchte, melde sich unbedingt bei Avalan Joseph auf facebook.

Naja, das Abschieds-Foto sieht aber garnicht traurig aus….

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Inzwischen ist Januar und wir sind wieder in Martinique, da ja Anne, Clara und Norbert von dort ihren Rückflug nach Berlin nehmen mussten.  Herzlichen Dank für Euren Besuch – und ein besonders dickes Dankeschön sagen wir an Norbert, der uns bei jeder noch so herausfordernden Segelsituation mit Rat und äußerst tatkräftig unterstützt hat – im wahrsten Sinne ein „bestman“ (der ja auch tatsächlich unser Trauzeuge ist)!  Schade, dass es für Norbert nicht geklappt hat, mit dem Rauchen aufzuhören – aber immerhin hat die 15-tägige Abstinenz während der Atlantiküberquerung gezeigt, dass es grundsätzlich möglich ist. Vielleicht solltest Du einfach immer segeln?!

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Nun sind wir also wieder wir zu fünft an Bord – eine sehr entspannte Crew schaut mit Vorfreude ins neue Jahr! Denn vor uns liegen noch ganze 7 Monate Reise und jede Menge Traum-Ziele.

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Aber zunächst muss die Sameera wegen eines Schadens am rechten Motor bzw. an der Motorschraube (Saildrive) aus dem Wasser gehoben werden, auf eine sogenannte „Trocken-Werft“ zu Reparatur. Erfreulicherweise sind die Bedingungen dafür auf Martinique in Le Marin, dem sogenannten „Epizentrum des karibischen Segelsports“, ideal. Trockenwerft und sehr gut beleumundete Mechaniker stehen hier für Wartung und Reparatur bereit.

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Und so sind wir Kunerts für insgesamt 6 Tage aus der Sameera ausgezogen und wohnen während der Reparaturen und weiteren Pflegearbeiten am Unterwasserschiff in einem Apartment – sind also vorübergehende  Landratten. Schlafen mit festem Boden unter den Füssen / dem Bett, haben wir festgestellt, geht noch ganz gut. Neben vormittäglicher Schule auf dem Balkon vertreiben wir unsere Zeit mit Ausflügen über die Insel und treffen uns regelmäßig mit Sonja, Matthias, Nela und Lia der „Nelia“, die uns mit der Zeit sehr lieb geworden sind.

Bei einem gestrigen Ausflug waren wir hier auf Martinique in einem gigantischen Supermarkt, in dem es einfach ALLES gab; es gingen einem schier die Augen über. Da musste ich an die Worte der Jungs denken, mit denen wir auf St. Lucia den Wasserfallausflug unternommen hatten: „Es ist ein Riesenmist, dass unsere Insel den Engländern zufiel  – fünf Mal ging das hin und her – aber am Ende gehörten wir zu England. Nun sind wir zwar – nach reichlicher Ausbeute der Insel durch die Engländer – in die Unabhängigkeit entlassen worden, aber wir kämpfen hier um Grundrechte und Auskommen,  die schönsten Landstriche sind von ausländischen Investoren aufgekauft, die normale Bevölkerung aber hat keinerlei funktionierende Gesundheitsversorgung. Wer krank ist, kann nur hoffen, von seiner Familie versorgt zu werden. Schau nur nach drüben, gleich die Nachbarinsel Martinique, wieviel besser ergeht es den Leuten dort…“

Ja, das ist kaum zu glauben, wie eklatant die Unterschiede zwischen den beiden Inseln sind. Hier auf dem zu Frankreich gehörenden Martinique ist der Lebensstandard mit dem europäischen vergleichbar – und die Menschen hier wirken insgesamt sehr viel zufriedener, Armut scheint  die Ausnahme zu sein. In St. Lucia hingegen haben wir erlebt, in welch ärmlichen Verhältnissen die Menschen leben, dass Kinder das Familieneinkommen mit verdienen, die „Schere“ zwischen Weiß und Schwarz bzw. reich und arm ist augenfällig.  Die Rollen sind hier wohl schon kraft Geburt und Hautfarbe zugeteilt.

Das ist etwas, das auch den großen Jungs schon auffällt – und viele Fragen bei ihnen aufwirft. Was kann für St. Lucia verbessert werden? Wie lange kann so offensichtliche Ungerechtigkeit und Ungleichheit gutgehen? Was würdest Du, Mama, als erstes machen, wenn Du Präsidentin von St. Lucia würdest? Welche Gesetze wären hilfreich? Wie würdest Du mit ausländischen Investoren umgehen? Und wie kann Korruption nachhaltig bekämpft werden? Was macht aus Deutschland ein so vergleichsweise fair wirkendes Land? Und weshalb wirkt es viel weniger fröhlich?

So traurig der Auslöser für solche Fragen ist, so freuen wir uns doch sehr darüber, dass eine unserer inneren Visionen für diese Familien-Reise aufzugehen scheint: über den Tellerrand schauen, normal erscheinende Zusammenhänge hinterfragen.

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